Von Zoe Hars
Schau dir deine Hände an. Was verraten sie über dich? Solltest du dir mal wieder die Fingernägel schneiden? Ist deine Nagelhaut schon wieder rissig, zeigt sich der Stress? Sind deine Hände trocken und strapaziert? Sind sie faltig, lassen sie dich alt fühlen? Sagen sie etwas über dich aus?
Hände können zwar Dinge ausdrücken, aber sie erklären uns nicht. Sie machen uns nicht transparent. Im Gegenteil: Hände verhelfen uns zu opaker Kommunikation und Grenzüberquerungen.
Im Februar 2021 hat die taiwanesische Choreografin Jasmine Fan ihr Stück MUDRA am Hamburger Lichthof Theater präsentiert.[1] Die für den Livestream kreierte Produktion widmete sich Handgesten und deren Tradition und Vergangenheit, deren potenziellen Bedeutungen für Gegenwart und Zukunft und der Nähe und Distanz, die mit ihnen geschaffen werden können. Édouard Glissants Begriff der Opazität bietet einen Zugriff auf MUDRA an, der die theoretischen Möglichkeiten handgestischer Kommunikation denken lässt. Diesem gedanklichen Pfad möchte ich hier folgen.
Édouard Glissant schreibt in seiner Poétique de la Relation über Sprachen – über gesprochene, über dominierte und dominierende, über kreolisierte, schriftliche und poetische Sprachen. Doch beginnen wir bei der Einzahl von Sprache und betrachten das Problem des Monolinguismus: Aus einem linearen und von Kolonisierung geprägten Geschichtsverständnis erwachsen, bildet sich die Annahme von „klassischen“ Sprachen. „Klassische“ Sprachen haben einen Prozess der Standardisierung erfahren. Sie ermöglichen ihre auf starren Regeln und Prinzipien beruhende Weitergabe sowie einheitliche Übersetzungstechniken.[2] Die im Monolinguismus verhafteten „klassischen“ Sprachen geben sich demnach dem Verlangen nach Klarheit und Eindeutigkeit hin. Folglich verkennt das monolinguale Denken die allen Sprachen immanente Multiplizität und Möglichkeit zur Ambivalenz und möchte stattdessen für Ordnung, sorgfältige Trennungen und Abgrenzungen sorgen. Es entstehen „monolinguale Vorurteile“,[3] die das Verhältnis von Sprachfähigkeiten und Identität in eine stärkere Abhängigkeit rücken.
Glissant widerspricht diesem monolingualen Denken, indem er die Multiplizität von Sprachen betont und somit die Möglichkeit für monolinguale Sprachen per se anzweifelt. [4] Das Denken der Multiplizität von Sprachen geht dabei mit Glissants Idee von Opazität einher. Allgemein bezeichnet Opazität das Gegenteil von Transparenz und steht auch bei Glissant für eine Sphäre der Trübheit und Uneindeutigkeit, in der sich Ambivalenzen und Differenzen ansiedeln können. Mehr noch: „Thus, that which protects the Diverse we call opacity.“[5] Opake Verhältnisse schützen Differenzen und Diversität, da sie keine Reduzierungen oder Normierungen, keine Transparenz oder Durchdringung des Eigenen oder Anderen erfordern. In ihrer Trübheit und Uneindeutigkeit schafft Opazität also die Bedingungen dafür, dass Grenzen verwischen; Grenzen, die Subjekte, Gruppen, Kulturen, Sprachen gegenüber Anderem eingrenzen und definierbar machen möchten. Und sind diese limitierenden Grenzen verwischt, so wird die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie durchlässig werden und die sich in Relation befindlichen Seiten auf eine gleichberechtigte Art und Weise produktiv begegnen können. Begegnungen unter opaken Umständen lassen kreolisierende Prozesse geschehen: Die unterschiedlichen kulturellen Elemente beginnen sich auf unvorhersehbare Art und Weise zu verzweigen, zu verschränken und voneinander zu profitieren. Gemeinsam lassen sie Neues entstehen.[6]
Nun fällt es nach Glissant in einer auf dem sogenannten Systemdenken beruhenden Welt schwer, Opazität anzuerkennen. In der Logik des Systemdenkens sind Ambivalenzen und Unvorhersehbarkeiten unerwünscht, da sie die bestehende hierarchische und linear-souveräne Ordnung, die bestehenden Dominierungsverhältnisse, ins Wanken bringen.[7] Dem entgegen setzt Glissant das sogenannte archipelische Denken, das die Konzepte von Opazität und Kreolisierung beinhaltet. Das Bild der Insel zieht Glissant zur Veranschaulichung von Relation heran: Eine Insel besteht neben ihrer Selbst in der Relation zu anderen und geht Verflechtungen ein. Es gibt kein Modell, um das Nebeneinander von Inseln zu fassen, es gibt das Nebeneinander von sich unterscheidenden Inseln.[8] Bei Glissants Relationsbegriff geht es also um den Umgang mit Differenzen, die, sofern sie anerkannt werden, konstruktiv für ein gleichberechtigtes Zusammenleben in der „All-Welt“ sind.[9] Unsere Differenzen sind die Bedingung für wertvolle Unvorhersehbarkeiten, die sich durch unsere opake Art der Kommunikation miteinander ergeben.
Warum sind Unvorhersehbarkeiten wertvoll? Glissant sieht in Unvorhersehbarkeiten die Grundlage unseres menschlichen Zusammenlebens. „[U]nsere Existenzen sind ebenso wie unsere wechselseitigen Beeinflussungen unvorhersehbar […].“[10] Wird dieser Umstand anerkannt, betrachten wir unsere Existenz und unsere Kulturen als kreolisiert und nicht als linear und eigenständig entwickelt. So entfernen wir uns von dem gefährlichen Denken der Menschheit als aus einer Wurzel stammend und sehen das Geflecht, das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existiert und alle Gebilde miteinander vereint.[11]
Ebenso verzweigt wie die Existenz kultureller Elemente und Identitäten ist auch Sprache zu denken. Erkennen wir die Breite, Varianz und Opazität von Sprachen an, kann uns dies davor bewahren, in monolinguales Sprachverhalten zu verfallen und Ausgrenzung und Diskriminierung zu befördern. Eine dementsprechend über verbale Sprache hinausgehende opake Kommunikationsform präsentiert die Inszenierung MUDRA.
In Jasmine Fans MUDRA befinden sich die beiden Performerinnen gemeinsam mit einem den Maßen der Bühnenbreite entsprechenden weißen Gazevorhang in einer Blackbox. Die Zuschauenden haben die Möglichkeit, sich durch die Teilnahme an der parallel zum Livestream stattfindenden Videokonferenz auf eine der vier schwarzen Wände projizieren zu lassen. Es ist ein spirituell anmutender Klangteppich, der die Inszenierung trägt und verschiedenste Assoziationen erlaubt. Das Geschehen beginnt mit einer unscharfen Videoprojektion zweier Hände auf dem Vorhang, bevor die Performerinnen ihn mit ihren eigenen Händen zu berühren beginnen. Nach einigen Minuten wird deutlich, dass die Performerinnen, geleitet von ihren Händen, den nicht gänzlich transparenten Vorhang zu durchqueren versuchen. Als dies der ersten der beiden gelingt, wird weiterhin deutlich, dass der Vorhang nicht nur durch sein bloßes Dasein als Mitspieler dieses Ensembles zu betrachten ist, sondern dass er zudem seine Position nach hinten, vorne, nach rechts und nach links verändern und sich um 360 Grad drehen kann.
Nachdem die erste Tänzerin den Vorhang also durchquert, dreht sich der Vorhang um 180 Grad und teilt die Bühne in eine rechte und eine linke Seite. Ab diesem Moment findet Interaktion zwischen den beiden Performerinnen statt: Die hinter dem Vorhang, bzw. nun auf der rechten Bühnenhälfte verbliebende Tänzerin steigert sich sichtlich in das Vorhaben, den Vorhang ebenfalls durchqueren zu wollen, hinein. Beide machen dieselben sich in ihrer Schnelligkeit steigernden Bewegungen, wobei jede einzelne Bewegungsfolge über die Dauer des gesamten Stückes mit Handgesten beginnt. Manche Gesten werden den Zuschauenden bekannt und eindeutig vorkommen, so z.B., wenn die Daumen nach oben oder unten gestreckt werden, die meisten aber erwecken den Eindruck, spontan und intuitiv zu sein. Nachdem die Tänzerinnen sich durch den Vorhang berühren, gelingt auch die Durchquerung, woraufhin der Vorhang sich rechts aus dem Bildausschnitt bewegt und die beiden Tänzerinnen allein lässt. Diese befinden sich nun sitzend auf dem Boden und verbinden sich durch ihre Hände miteinander, bis sie engumschlungen sind. Ihre Bewegungen führen zunehmend zu einer totalen Verschränkung der beiden Körper. Gliedmaßen werden ein- und untergehakt, erneut ausgestreckt und finden einen neuen Platz in dem Gebilde, bis der Vorhang die Bühne wieder teilt, sich in seine Ausgangsposition zurückdreht und die beiden Körper wieder trennt. Ab diesem Moment im Stück werden die beiden Tänzerinnen keinen harmonischen Kontakt mehr haben. Es ertönt ein Rauschen wie man es von einer schlechten Funkverbindung kennt, die Kommunikation wird fehlerhaft unterbrochen. Es erklingen zwei kurze Anekdoten zu handgestischer Kommunikation aus der Kindheit, wobei die Tänzerinnen die beschriebenen Gesten in ihre Bewegungen aufnehmen. Dann erzählt die Stimme aus dem Off von der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste in Hong Kong und die Tänzerinnen verwenden für ihre Bewegungen abgewandelte Varianten der Handgesten, die die Protestierenden der Demokratiebewegung auf Demonstrationen für Absprachen und Warnungen verwenden. Das Verhalten der beiden Tänzerinnen zueinander wird antagonistischer. Wenn körperlicher Kontakt durch den Vorhang hindurch entsteht, dann wirkt er kämpferisch, gereizt, schmerzlich, wobei eine der beiden eine stärker dominierende Haltung einnimmt. Es wird noch ein letzter Versuch unternommen, die anfängliche Einheit der beiden wiederherzustellen – sie wenden die gleiche Bewegungsabfolge an – und dennoch gelingt es nicht. Als auf dem Vorhang, der sich in der letzten Sequenz hinten auf der Bühne befindet, dieselben verschwommenen Projektionen vom Beginn zu sehen sind, beendet die dominierte Tänzerin den Kontakt und verschwindet nach hinten durch den Vorhang.
Kommunikation per Handgesten ist das Thema von MUDRA. Das verrät auch der Titel des Stücks, der sich auf die traditionellen und symbolträchtigen hinduistischen Mudras bezieht. Jasmine Fan spürte ihnen in die Vergangenheit nach, entdeckte sie in neuer Gestalt in unserer Gegenwart und präsentiert das stark verzweigte Geflecht der handgestischen Kommunikation. Ursprünge dieser lassen sich auf der ganzen Welt finden, neue Erscheinungsformen entwickeln sich permanent und vor allem unvorhersehbar.
MUDRA zeigt, wie Handgesten die Möglichkeit für ein gleichberechtigtes Miteinander bieten: Die komplexe körperliche Kommunikation, die komplexe Hand- und Körpersprache, verlangt keine Erklärung der eigenen Identität, sondern ermöglicht eine intuitive Begegnung. Der hier verwendete Begriff der Intuition versucht die Beschaffenheit einer Begegnung innerhalb der Trübheit der Opazität und den einhergehenden Ambivalenzen zu beschreiben. Da ein solches Aufeinandertreffen zweier Seiten keine gegenseitige Durchdringung, keine Reflexion,[12] erfordert, kann es an dieser Stelle zu solchen Handlungen kommen, die in ihren Folgen zu unvorhersehbaren Bindungen, zu gleichberechtigten Verflechtungen führen. Ob der Begriff der Intuition für ein solches Denken und Handeln präzise genug und nicht womöglich zu nah am Subjekt, zu nah an einer „inneren Welt“ befindlich ist, ist jedoch zu fragen. Als Ergänzung, um den Gegensatz zwischen „Verstehen“ und intuitiver Kommunikation zu schärfen, ließe sich der Begriff der Affizierbarkeit einbringen. Statt Begegnungen und Interaktionen beschreibt er eine spezielle Art des Bezugnehmens, dem die Möglichkeit einer Veränderung der Wahrnehmung innewohnt, ohne, dass das Andere, dasjenige, das affiziert, von dem, das affiziert wird, durchdrungen und erfasst wird.[13]
Das Miteinander auf der Bühne, ob es nun von Intuition getrieben wird, oder sich die beiden Performerinnen wechselseitig affizieren (lassen), entzieht sich der Standardisierung, Normierung und Unterdrückung einer monolingualen Denkweise. Denn die Kommunikation per Körper, die sich uns in MUDRA zeigt, ist mehrsprachig und multipel: Die beiden Performerinnen sprechen durch ambivalente Gesten, durch Mimik, durch Berührung, durch Kraftdemonstration.
„Relation […] is spoken multilingually. Going beyond impositions of economic forces and cultural pressures, Relation rightfully opposes the totalitarism of any monolingual intent.”[14]
Die beiden Tänzerinnen befinden sich in Relation zueinander, die bestehende Differenz erkennen sie durch die Verwendung handgestischer Sprache an. Doch als dann die Proteste in Hong Kong akustisch zur Sprache kommen, zerstört diese monolinguale Referenz auf ein unterdrückendes politisches System die Atmosphäre und Dichte der Opazität. Das Eingehen von Verbindungen durch den Vorhang hindurch wird erschwert und die beiden Performerinnen verlassen die Sphäre der Relation in Richtung einer Opposition. Die Kommunikation wird eindeutiger, feindseliger und scheint emotional aufgeladen.
In seiner dynamischen Art weist MUDRA also auf die Chancen von Opazität hin. Die Bühne des Hamburger Lichthof Theaters wird zu einem Ort, an dem an dem kreolisierende Prozesse geschehen, wenn die beiden Tänzerinnen Stück für Stück an einem gemeinsamen körperlichen Gebilde arbeiten. Die Zuschauenden werden Zeug*innen von verschwimmenden Grenzen und affizierten Begegnungen. Gleichzeitig erhalten sie eine Warnung vor dem reduzierenden und diskriminierenden Monolinguismus, der die Macht hat, Menschen zu ordnen und Verbindungen zu trennen.
Was sagen dir deine Hände also? Sagen sie etwas über dich aus? Können sie überhaupt sprechen?
Vermutlich würden sie, könnten sie verbal kommunizieren, folgendes sagen: „Hier ist deine Möglichkeit, gleichwertige Verbindungen einzugehen. Wir sind intuitiv. Wir sind komplex. Benutze uns, um opak zu kommunizieren. Benutze uns, um Grenzen zu überqueren.“
Redaktion: Rebekka Tempel / Hakyung Kang
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[1] Jasmine Fan, MUDRA, Uraufführung: 25.02.2021, Lichthof Theater Hamburg, Aufführung besucht am 25.02.2021.
[2] Vgl. Édouard Glissant, Poetics of Relation, übers. v. Betsy Wing, Michigan 2010, S.112; S.114f.
[3] Den Ausdruck „monolingual prejudice“ verwendet Glissant im Zusammenhang mit Stolz auf die eigene Sprache als ein wesentlicher Bestandteil der eigenen Identität. Vgl. ebd. S.98 und S.118.
[4] Vgl. ebd. S.118f.
[5] Vgl. ebd. S.62.
[6] Vgl. Édouard Glissant, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg 20132, S.14f; S.63.
[7] Vgl. ebd. S.13.
[8] Vgl. Markus Messling, „Chaos World? Édouard Glissant and the question of universality“, in: Untie to Tie, 2017; http://untietotie.org/en/essays/?ref=en/phase-1/#exhibition/chapter-1, Abruf am 13.07.2021.
[9] Mit „All-Welt“ bezeichnet Glissant die Gesamtheit der weltweiten Beziehungen mit all ihren Unvorhersehbarkeiten. Vgl. dazu Glissant, Kultur und Identität, S.62.
[10] Vgl. ebd. S.64.
[11] Vgl. ebd.
[12] Wie Astrid Deuber-Mankowsky in einem Aufsatz zum Thema nahelegt, ließe sich mit Donna Haraway über die Verwendung von „Diffraktion“ als einem Gegenstück zum Reflexionsbegriff nachdenken. Ebenfalls aus dem Vokabular der Optik stammend bedeutet „Diffraktion“ so viel wie „Beugung“ und beschreibt die wellenartigen Bewegungen der Lichtwellen, wenn sie auf ein Hindernis treffen. Während „Reflektion“ also auf einen Spiegel referiert, benennt „Diffraktion“ unvorhergesehene Interaktionen und deren Verortung in relationalen Gefügen. Astrid Deuber-Mankowsky, Diffraktion statt Reflexion. Zu Donna Haraways Konzept des situierten Wissens. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 4: Menschen und Andere, Jg. 3 (2011), Nr. 1, S.83-91.
[13] Vgl. Leon Gabriel, Entzug und Bezug, in: Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, hg. von Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll, Bielefeld 2019, S. 229-245, hier v.a. S. 242.
[14] Glissant, Poetics of Relation, S.19.