Von Hakyung Kang
Walter D. Mignolo erklärt Rationalität in seinem Buch „Epistemischer Ungehorsam“ wie folgt:
„Die moderne Rationalität ist zugleich vereinnahmend, defensiv und ausschließend. Quijano ergänzt, dass ein solcher Begriff von Totalität in nicht europäischen Imperien Epistemologien und Sprachen (Mandarin, Arabisch, Bengalisch, Russisch, Aymara etc.) entweder nicht existiert oder nicht denkbar ist.“[i]
Mignolo sagt, dass hinter den Konzepten, die unter dem Namen Modernität aufgeführt sind, wie die Vernunft im Westen Kolonialität steckt. Die Kolonialität wurde im Zuge des Imperialismus und Kolonialismus konsequent etabliert und wird bis heute reproduziert. Deshalb schreibt Mignolo, dass eine Dekolonisierung von Sein und Erkenntnis notwendig ist, um davon befreit zu werden.
Überall auf der Welt scheint es in Folge der durch die politische Philosophie und politische Ökonomie verbreiteten okzidentale Sprachen und Denkkategorien, als wären diese okzidentalen Gedanken universal, und unter diesem Gesichtspunkt interpretiert und konzipiert man die Erfahrungsräume der nicht-europäischen Länder. Durch dieses „vermeintliche“ Wissen werden die Lebenshorizonte verschiedener Länder fragmentarisch verstanden. Die Geschichten, Sprachen, die Leben und die Erinnerungen dieser Länder, die nicht zu Europa und den USA gehören, wurden zum Schweigen gebracht, weil sie nicht den weithin anerkannten westlichen Ideen entsprechen. Mignolo argumentiert für ein pluriversales Weltverständnis, statt einer universalen Sichtweise. Eine Welt, in der viele Welten möglich sein können, wird als pluriversal bezeichnet. Als Methode der Pluriversalität schlägt er kritisches Grenzdenken vor. Kritisches Grenzdenken heißt, dass sich die Denkkategorien und Lebensformen in der Lokalgeschichte, die durch koloniale Einflüsse zum Schweigen gebracht wurden, befreien. [ii]
Wenn man sich die Inszenierung „Ten Thousand Tigers“ angeschaut, kann man den Eindruck haben, dass kritisches Grenzdenken im Stück gut zum Ausdruck kam. Als ich diese Inszenierung zum ersten Mal sah, fiel mir auf, dass der Regisseur mit asiatischem Hintergrund über die Geschichte von Asien inszeniert hat. Auch wenn ich in fünf Semestern, die ich Theaterwissenschaft studiere, verschiedene Inszenierungen sowohl in Seminarkontexten als auch in meiner Freizeit gesehen habe, so gab es wirklich wenige Inszenierungen, die um die Geschichte Asiens gingen. Und es gab noch weniger Stücke über die Geschichte Südostasiens. Diese Inszenierung sollte für mich eigentlich eine kulturell verständlichere und persönlichere Arbeit sein und dennoch empfinde ich diese Inszenierung als ungewohnt, weil sie in Deutschland zu sehen, auch für mich eine neue Erfahrung war. Dieses Fremdgefühl und die Überraschung liegen darin, dass sich diese Inszenierung von anderen bisherigen Inszenierungen unterscheidet. Dieses Gefühl des Unterschieds hängt mit dem kritischen Grenzdenken zusammen, das in Ho Tzu Nyens Inszenierung zum Ausdruck kommt. In diesem Beitrag wird versucht, kritisches Grenzdenken in „Ten Thousand Tigers“ zu analysieren, indem es als mit dem Motiv des Wassers als verbunden gezeigt wird, welches in der Inszenierung eine wesentliche Rolle spielt.
Der Regisseur von Ten Thousand Tigers heißt Ho Tzu Nyen. Er ist ein Multimedia- Künstler und Filmregisseur, der aus Singapur kommt. Der Fokus seiner Arbeiten beschäftigt sich hauptsächlich mit Raum und Kultur Südostasiens. Er konzentriert sich darauf, wie der Raum, der als Südostasien bezeichnet wird, durch historische Ereignisse auf die Welt übertragen wird und beschäftigt sich mit der Gesellschaft, Politik und Geschichte Südostasiens während der Kolonialzeit und des Kalten Krieges bis in die Gegenwart. Auch seine Inszenierung „Ten Thousand Tigers“ weicht nicht von seinen Schwerpunkten ab.
Selbst ich, die in Ostasien aufgewachsen ist, weiß nicht viel über die Geschichte Südostasiens. Man lernt in der Schulzeit etwas über die Geschichte Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und der USA, aber man lernt nicht viele Details über die Geschichte Südostasiens. Während ich mit der Geschichte der ostasiatischen Länder relativ vertraut bin, wurde mir klar, dass Südostasien nicht nur für mich, sondern für die Welt unsichtbar ist. Kann dies vielleicht ein Symptom der Kolonialität sein, über die Mignolo schreibt?
Wie man dem Titel der Inszenierung entnehmen kann, tauchen verschiedene Geschichten auf, die alle mit dem Motiv des Tigers verbunden sind. Während der gesamten Inszenierung tauchen Tiger immer wieder auf und sind ein Verbindungspunkt, der die verschiedene Szenen miteinander verknüpft: Ein Spion namens Lai Teck der kommunistischen Partei Malayas, der 50 verschiedene Namen hatte, die Bedeutung von Tiger in Malayas Kulturkreis, ein chinesischer Mythos vom Weretiger, der sich von einem Tiger zu einem Menschen wandelt, eine Tafelmalerei von Heinrich Leutemann „Unterbrochene Strassenmessung auf Singapore“ und der japanische General Yamashita Tomoyuki, der während der japanischen kolonialen Besatzung der malaiischen Halbinsel als „Tiger von der Malayas Halbinsel“ bezeichnet wurde.
Die Inszenierung beginnt, indem das Licht einen sich drehenden Projektor beleuchtet. Durch das Licht kann man den Querschnitt des Projektors sehen und dadurch wird angedeutet, dass der Projektor von jetzt an etwas projizieren wird. Das Licht, das auf den Projektor gerichtet ist, verschwindet, aber man kann immer noch das Geräusch des sich drehenden Projektors hören. Danach richtet das Licht oben links auf die Bühne, wo alte Papiere und Bücher liegen. Die Bühne sieht wie ein großes Bücherregal aus. Ein Projektor, Bücher und andere Requisiten, die später während der Inszenierung benötigt werden, sind in getrennten Fächern auf dieser kastenartigen Bühne angeordnet und das Licht beleuchtet bestimmte Fächer je nach Szene.
Durch eine Stimme aus dem Off wird darüber erzählt, wie die Geschichtsschreibung manipuliert wurde und dass eine Geschichte, die wir jetzt kennen, nur ein kleiner Teil der tatsächlichen historischen Ereignisse ist. Alle Lichter sind ausgeschaltet und ein japanischer Soldat steht in Militäruniform in einem großen Fach links auf der Bühne. Er steht in einem hohen Gebüsch und man kann sein Gesicht nur sehr im Dunkeln sehen. Er erzählt von einem Mann namens Lai Teck, einem dreifachen Spion der kommunistischen Partei Malayas. Danach beleuchtet das Licht zwei weitere Fächer, wobei in jedem dieser Fächer auch ein Mann hockt. Daneben befindet sich eine den Männern ähnliche Skulptur. Zunächst werden nur Schatten und Silhouetten gezeigt, so dass es wie vier Männer aussieht.
[Abbildung: Das Setting/Bühnenbild; Foto aus Programmtext des Festival Theaterformen 2016]
Es erklingt die folgende Narration: „ The first men live next to the waters at the forest edge. A zone favored by boars, deer, and the tigers that prey on them.”[iii] Gleichzeitig kann man den von Wind geschüttelten Busch dunkel sehen. Das Geräusch von fließendem Wasser ist auch zu hören. Eine andere Narration wiederholt sich mehrmals: „In these fields, the striped tiger dissolves into the tall grass. In the river, the tiger bleeds into the shadow of man.”[iv] Das Licht, das den Busch beleuchtet, wird ausgeschaltet. Das gefüllte Wasserbecken leuchtete auf. Der Hintergrund des Wasserbeckens ist sehr dunkel und nur sehr schwaches Licht zeigt, dass das Wasser darin weiter zirkuliert. Gleichzeitig erscheint in dieser Szene die folgende Offstimme.
„The being of animal in the world is like that of water in water.
This is why in the midst of crossing a river one is able to dissolve into a tiger.
If there is no water in the vicinity, remove your clothes, shed the skin of your civilization, speak the magical formular, perform three summersaults and create the sign of the spiral, the symbol of water which opens the path to the underworld.
Water facilitates passages across boundaries.
Water lubricates the motor of metamorphoses.
Water carries the seed of its eventuality.
The source is division.
The origin is rupture.
In the waters, life begins, and death is born.“[v]
Die dargelegten Wassermotive önnen mit dem kritischen Grenzdenken verbunden werden. Zunächst ist die materielle Existenz von Wasser nicht zerteilt. Viele Länder argumentieren, dass das Meer zu ihrem eigenen Gebiet gehört und sie kämpfen, um das Meer mit ihrem Staatsnamen zu benennen. Aber man kann das Meer nicht teilen, wie der Imperialismus den afrikanischen Kontinent eingeteilt hat. Wasser überschreitet Grenzen und fließt immer. Im Wasser könnten vielleicht viele Welten pluriversal existieren, wie Mignolo sagt.
Im Wasser beginnt das Leben und der Tod wird geboren. Malaya ist geografisch eine Halbinsel. Wasser umgibt die drei Seiten Malayas. Diese geografische Lage gab den Einwohnern viele Ressourcen und Lebensmittel. Gleichzeitig wurde dieses geografische Element durch die koloniale Matrix ausgenutzt. Die Position als Halbinsel erleichtert immer die Invasion aus vielen anderen Orten. Die malaiische Halbinsel war unter der Herrschaft vieler Länder. Im 16. Jahrhundert wurde Malaya von Portugal zur Missionsarbeit besetzt und im 17. Jahrhundert wurde es von den Niederlanden und dann Großbritannien kolonisiert. Im Zweiten Weltkrieg hat Japan von 1942 bis 1945 Malaya besetzt. Nachdem Japan im Zweiten Weltkrieg besiegt worden war, wurde Malaya erneut von Großbritannien regiert und ist seit 1957 unabhängig.
Angesichts dieser Geschichte verwandelt sich das Wasser in einen Ort des Todes. Wasser fließt mit dem Blut der Tiger, die von britischen Kolonisten getötet wurden. Wasser fließt mit dem Blut derer, die an einem Ort geopfert wurden, der aufgrund der Ideologie zum Kriegszentrum wurde.
Diese Aspekte sind für mich sehr nachvollziehbar, weil mein Heimatland, Korea, aufgrund der geografischen Lage als Halbinsel in der Geschichte unter mehreren Kriegen litt. Ich dachte immer: Wir wären nicht angegriffen worden, wenn wir nicht auf einer vom Meer umgebenen Halbinsel gewesen wären, und dann wären wir durch den Zweiten Weltkrieg nicht in zwei Länder, also Nord- und Südkorea geteilt worden.
Das Meer ist ein wunderschöner Ort, aber gleichzeitig ein Raum, der den Beginn von Spaltung und Aggression darstellt. Die Inszenierung „Ten Thousand Tigers“ zeigt die verschiedenen Aspekte des Wassers und dieses wird somit zu einem Element, das die vernachlässigte und verborgene Lokalgeschichte Malayas vermittelt.
Aus westlicher Sicht ist Malaya vielleicht nur eine warme Tourismusregion, die im Winter als Reiseziel lockt, um schönes Meer und warmes Wetter zu genießen. Es ist jedoch ein historischer Ort, an dem das Leben beginnt und der Tod geboren wird. Aufgrund der Kolonialität ist die Lokalgeschichte im Detail noch unbekannt und deswegen ist es noch ein versteckter und unbekannter Raum, der im Westen als exotisch beschrieben wird.
Beim Ansehen dieser Inszenierung waren auch die eingesetzten lebendigen asiatischen Sprachen überrasched. Die Inszenierung wurde eine Stunde lang ohne Pause auf drei verschiedenen Sprachen aufgeführt: Japanisch, Chinesisch und Malaiisch.
Englisch, Französisch und Deutsch sind die zentralen Sprachen der akademischen Welt. Deswegen ist es jedoch sehr schwierig für die Subjekte der nicht-westlichen Regionen, ihre Geschichten und Erinnerungen in ihren eigenen Sprachen zu sprechen und sie in die Welt zu vermitteln. Man sagt, dass die Welt global sei, blockiert jedoch mit der vorherrschenden Sprachbarriere die Übermittlung diverser Geschichte(n). Es gibt nur bestimmte Sprachen, die als universal gelten. Dies ist auch ein Phänomen, das Teil der Kolonialität ist. Daher wird auch in dieser Hinsicht kritisches Grenzdenken benötigt. Aus dieser Perspektive wurde kritisches Grenzdenken gut widerspiegelt, weil jeder Schauspieler die Geschichte in seiner eigenen Sprache beschrieben hat: Der Schauspieler in der Rolle des japanischen Generals hat auf Japanisch, der Schauspieler, der einen chinesischen Mythos über Weretiger erzählte, hat auf Chinesisch gesprochen. Die zwei Schauspieler, die die ganze Zeit in den Kästen hockten, haben auf Malaiisch gesprochen.
Jedes Mal, wenn man die Inszenierung ansieht, kommen neue Ideen und man kann neue Dinge entdecken. Durch die Wassermotive in der Inszenierung wird die koloniale Geschichte Malayas, die wegen der Kolonialität unisichtbar waren, auf eigenen Sprachen übermittelt. Mit der Sichtweise, die in dieser Inszenierung gezeigt wurde, kann man gut verstehen, was Mignolo mit der Pluriversalität gemeint hat. Ich hoffe, mehr Inszenierungen wie dieses Werk in Deutschland zu erleben. Ich hoffe, dass mehr Geschichten von Tigern bekannt werden. Ten Thousand Tigers, Hundred Thousand Tigers and one million Tigers …
Redaktion: Zoe Hars / Ida Feldmann
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[i] Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012, S. 51.
[ii] Ebd., S.52, 189.
[iii] Ho Tzu Nyen: Ten Thousand Tiger, Wien 1-4 Juni 2014, (Ich beziehe mich im Folgenden auf bei meiner Analyse auf einen undatierten Videomitschnitt; siehe Timecoe: 6:15-6:30 Min.
[iv] Ebd., 6:40-7:00 Min.
[v] Ebd.,7:40-9:00 Min.