Wintersemester 2020/21
Dozent: Dr. Leon Gabriel
Hauptseminar für MA-Studierende und fortgeschrittene BA-Studierende
Seminarbeschreibung:
„However, I am invested – because I don’t see how we will be able to exist otherwise – in the end of the world as we know it.“
Denise Ferreira da Silva
„Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt, in welche viele Welten passen.“
Ejército Zapatista de Liberación Nacional
Mit dem 20. Jahrhundert ist die Idee der Welt als einer Einheit, die dem Menschen als Ganzes ansichtig werden könnte, ins Wanken geraten und im beginnenden 21. Jahrhundert in eine Krise gerutscht – nicht zuletzt scheinbar paradoxerweise einhergehend mit der Globalisierung und zunehmenden Vereinheitlichung globaler Zusammenhänge. ‚Das Ende der Welt‘ meinte also keine Weltuntergangsszenarien und Apokalypsen, sondern beschreibt letztlich die Erosion einer bestimmten Idee von Universalismus‘: Das Bild der Welt, die Vorstellung von Einheit und Ganzheit, mit Europa als Zentrum und dem Menschen (d.h. dem europäischen, weißen, männlichen Menschen) als Richtschnur. Ganz besonders in der jüngsten Zeit ist diese Kritik an einem Teil des Erbes der Moderne und mithin der Aufkärung noch einmal durch die Dekonstruktion sowie post- und dekoloniale Ansätze verschärft worden.
Aber nicht nur begrifflich stehen dabei ‚die‘ Welt (und ‚der‘ Mensch) zur Debatte, sondern vor allem auch darstellungspolitisch. Denn bereits die Annahme, dass Erfahrungen zu einem Bild der Welt zusammengefasst werden können, das dann als Welt als solche aufgefasst werden kann, geht einher mit der Konstruktion neuzeitlicher Schauanlagen. Und die gegenwärtige Krise dieser Vorstellung von Welt hat sowohl auf szenische Künste, als auch auf geisteswissenschaftliche Beschäftigungen immer mehr Auswirkung. Während noch bis vor nicht allzu langer Zeit oftmals in der Theaterwissenschaft die Rede vom „Welttheater“ war, d.h. dem Theater als Ort eines weltweiten Kanons wie auch der Bühne als Spiegel der Welt, so sind es nunmehr die szenischen Arbeiten, die daran Zweifel wecken. Viele Inszenierungen und Performances der letzten 10 Jahre arbeiten an anderen Denkweisen von der Welt – oder gar von pluralen Welten – und vom Menschen.
Im Kern dessen stehen dabei also letztlich immer wieder Fragen der Darstellung: Wie wird diese Vor- und Darstellung der Welt als Einheit erzeugt, wie durchbrochen oder verändert? Wie ist die Welt anders verhandelbar? Oder auch noch konkreter: Was findet in der vereinheitlichenden Annahme keinen Platz und wird ausgeschlossen? Wie findet dieses Ausgeschlossene mit seinen je spezifischen Ansprüchen ebenso Raum? Welche anderen Weltzugänge und -verhältnisse entgehen uns und können diese erfahrbar werden? Und wie ließe sich ein Gemeinsames, Geteiltes dennoch zeigen, ohne falsche Rückschlüsse zu einem fixen Bild und allgemeingültigen Behauptungen zu summieren? Die Bühne steht dann nicht als Bild für etwas vor uns, sondern geht uns anders an.
In diesem Seminar werden wir diesen Fragen nachgehen und dazu sowohl experimentelle Theaterarbeiten ansehen, als auch herausfordernde, aber lesenswerte und viel diskutierte Texte vor allem aus philosophischer Dekonstruktion und postcolonial studies , aber auch aus black studies und aus materialistischen Ansätzen lesen. Angedacht als Möglichkeiten für die Analysesitzungen sind bislang Theater- und Tanzarbeiten von Rimini Protokoll, Walid Raad und Jalal Toufic, William Kentridge, Kettly Noel, Kate McIntosh, Amanda Piña/nadaproductions und Ariel Efraim Ashbel, ebenso wie Videokunst etwa von John Akomfrah, Hito Steyerl, Monira Al Quadiri, The Otolith Group oder Steve McQueen. Wenn jedoch möglich, so sollen auch fakultativ in kleinen Gruppen im Ruhrgebiet Inszenierungen (mit dem nötigen Abstand zueinander) besucht werden. Geplant sind außerdem Texte von Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy, Gayatri Chakravorty Spivak, Silvia Federici, Édouard Glissant, Achille Mbembe, Walter Mignolo, Dipesh Chakrabarty, Paul Gilroy, Sylvia Wynter, Denise Ferreira da Silva und Edouardo Viveiros de Castro. Dabei werden wir uns zum Beispiel mit Mundialisierung, Multiversen/Pluriversen, der „Chaos-Welt“ (Glissant) sowie anderen Epistemologien beschäftigen. Und was kommt eigentlich ‚nach‘ dem Ende der Welt?
Entstandene Beiträge:
Unterwegs in polyphonen Landschaften (von Ida Feldmann)
Kritisches Grenzdenken in „Ten Thousand Tigers“ (von Hakyung Kang)
Das multiple Denken unserer Hände (von Zoe Hars)
Das Potenzial von musikalischem Sampling. Ein Spannungsfeld transkultureller Praxis (von Nele Liekenbrock)
Grenzdenken im Kolonialismus der Moderne (von Rebekka Tempel)