Menü Schließen

Unterwegs in polyphonen Landschaften

Von Ida Feldmann

Als der Biologe Conrad Hall Waddington 1940 die Epigenetik[1] begründete, beauftragte er den Landschaftsmaler John Piper, eine „epigenetic landscape“ zu malen. Die Bildunterschrift lautete: „Looking down the valley towards the sea. As the river flows away into the mountains it passes a hanging valley, and then two branch valleys, on its left bank. In the distances the sides of the valleys are steeper and more canyon-like.”[2]

 

[Die erste Kohlezeichnung von John Piper]

Die Kohlezeichnung[3], die später durch schematischere Zeichnungen ergänzt bzw. von ihnen abgelöst wurde[4], sollte den Entwicklungsprozess darstellen, durch den sich eine pluripotente Zelle[5] im Verlauf der Wechselwirkungen mit ihrer Umgebung zu einer spezifischen, differenzierten Zelle entwickelt (Worum es hier aber nicht weiter gehen soll). Darüber hinaus wirft dieses Modell bis heute Fragen nach dem Zusammenhang von Denken und Modellen, von (bildender) Kunst und Naturwissenschaft, Raum und Zeit (und Wahrscheinlichkeit) auf und lenkt den Blick auf den Zusammenhang von Denken und Landschaften. Während die epigenetische Landschaft als wissenschaftliches Modell Ende der 1960er Jahre nicht mehr genutzt wurde und erst mit dem Aufkommen der Big-Data-Genomforschung im 21. Jahrhundert zurückkehrte, wird sie derzeit in der Biologie (insgesamt in den life scienes) und darüber hinaus rekonzeptualisiert, wobei vor allem die heuristischen und methodischen Implikationen von Bedeutung sind.[6]

[Spätere, schematischere Darstellungen der „epigenetic landscape“]

Von dieser europäisch (britisch) geprägten Landschaft und ihrer Bedeutung für die Entstehung eines neuen Felds der Genetik lasse ich den Blick schweifen, öffne ihn hin zum Karibischen Meer und den Nord- und Südamerikanischen Landschaften, bei denen Édouard Glissant seine Ausführungen und sein Denken beginnen lässt.[7] Die Offenheit dieser Landschaften („paysage irrué“[8]) ist für ihn bezeichnend für ein archipelisches Denken, ein Denken von Vielheit und Ambivalenzen. Glissant spricht sich für dieses Denken aus, in Abgrenzung von dem, was er „Systemdenken“[9] nennt und dessen falscher Universalität. Mit dem Begriff der Kreolisierung bezeichnet er Vorgänge der Begegnung zwischen unterschiedlichen kulturellen Elementen (einschließlich, aber nicht ausschließlich: Überlagerungen, Verflechtungen, Abstoßungen und Anziehungen, Zusammenstöße, Konflikte), die sich nur innerhalb einer gegenseitigen Wertschätzung vollziehen können[10] und die immer Unvorhergesehenes und Unvorhersehbarkeit in sich tragen.[11] Das archipelische Denken fordert keine Transparenz ein, es räumt stattdessen ein Recht auf Opazität ein.[12] Das heißt, dass eine Undurchsichtigkeit in Begegnung mit anderen angenommen wird, die bestehen bleiben darf. Es braucht kein vollständiges Verständnis des „Anderen“ und mehr noch: das kann es nicht geben.

Von einer anderen Art der Undurchsichtigkeit schreibt Anna Lowenhaupt Tsing in Der Pilz am Ende der Welt. In ihrem Werk folgt sie den Verflechtungen und komplexen Gefügen – ökonomischen und ökologischen – die den Matsutakepilzhandel zwischen Nordamerika und Japan bedingen und hervorbringen.[13] Damit richte ich meinen Blick von den Archipelen der Karibik hinein in die Wälder Oregons, in die postindustriellen, die beschädigten Wälder, in die Ruinen des Kapitalozän. Undurchsichtigkeit im Sinne von (Selbst)Verschleierung spielt bei Tsing eine Rolle, wenn sie schreibt: „Zivilisation und Fortschritt […] sind Verschleierungs- und Übersetzungsmechanismen […], um auf Werte zugreifen zu können, die durch Gewalt beigebracht wurden: klassische Verwertung.“[14] Verschleierungsmechanismen sind also am Werk, wo innerhalb des Verwertungskapitalismus Lieferketten Übersetzungsarbeit leisten.[15] Landschaften – im Fall der Matsutake vor allem Kiefernwälder – sind für Tsings Beobachtungen zentral: „Landschaften sind keine Kulissen für historisches Handeln: Sie selbst handeln. Beobachtet man die Formierung von Landschaften, sieht man, wie Menschen sich mit anderen Lebewesen verbinden, um Welten zu gestalten.“[16] Es lohnt also, eine Analyse von globalen Lieferketten mit einem Denken von Gefügen, einem behutsamen Verständnis von Landschaften zu beginnen, das heißt von den „sich überlagernden welterzeugenden Tätigkeiten zahlreicher menschlicher wie nichtmenschlicher Akteure“[17].

Wie also (Geschichten) erzählen? Im Theater zum Beispiel?

Was folgt aus den bisherigen Überlegungen, wenn man bis hierhin der Argumentation folgt und sie für die Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden, fruchtbar machen will?

Es stellt ein Dilemma dar – für das Theater in besonderem Maße –, dass wir[18] solche Geschichten, die ohne menschliche Protagonist*innen und ganz ohne menschliches Handeln auskommen, nicht gewohnt sind.[19]

Tsing formuliert drei Thesen, wie die „Abenteuer“[20] der Landschaften erzählt werden könnten, die auf Schwachstellen des Status quo verweisen[21]: Es gilt, 1) nicht nur ein Geschöpf (Mensch eingeschlossen) oder eine Beziehung zu betrachten, sondern komplexe Gefüge verschiedener Lebensweisen. So ziehen die Geschichten der Matsutakepilze Tsing und ihre Leser*innen notwendigerweise in die damit untrennbar verwobenen Geschichten der Nematoden[22], Kiefern und der Pilzsammler*innen hinein. 2) Gilt es, auf artenübergreifende Feinabstimmungen, d.h. Koordinierungen verschiedener Organismen in Gefügen, zu schauen. Nur innerhalb des komplexen, rhythmischen Gefüge des Waldes kann der Matsutake verstanden und von ihm erzählt werden.[23] 3) Gilt es anzuerkennen, dass solche Koordinierungen durch die Zufälligkeit des geschichtlichen Wandels entstehen und vergehen. Ein letztes Mal zum Beispiel des Matsutake zurückkehrend: Der Matsutake kommt in Japan selten vor, da dort ein Kiefernsterben stattfand, verursacht durch amerikanische Kiefernholznematoden, die im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts mit amerikanischen Kiefern importiert wurden. Auch die Geschichten der amerikanischen Pilzsammler*innen und -händler*innen sind durch historische Veränderungen entstanden, sie sind häufig durch Kolonialgeschichte, Verfolgung und Krieg geprägt.

Ihre drei Thesen veranschaulicht Tsing anhand von polyphoner Musik, bei der selbstständige Melodien miteinander verwoben sind und simultan ablaufen. Dabei ist man angehalten, sowohl auf die verschiedenen einzelnen Melodien, als auch auf die harmonischen und dissonanten Momente, die aus ihrem Zusammenspiel hervorgehen, zu achten.[24]

Ich möchte an dieser Stelle die Aufzählung fortzuführen, bzw. in Bezug auf die szenischen Künste spezifizieren: Die Herausforderung ist, 4) polyphone Landschaften aus der Kulisse zu befreien, also den Hintergrund nach vorne zu holen, bzw. das Konzept „vorne“ und „hinten“ aufzulösen.[25] Das bedeutet für das Theater, das Verhältnis – die Hierarchie – von Bühnenbild und Schauspieler*innen, bzw. von Szenografie und Performer*innen, zu befragen und neue Konstellationen zu wagen. 5) Sind nicht-menschliche Akteure nicht leichtfertig zu anthropomorphisieren. Mit einer solchen Vermenschlichung wird ein Tier oder eine Pflanze als Akteur*in auf die Bühne gebracht und mit menschlicher Agency versehen. Dabei wird nicht anerkannt, dass diese Perspektiven bis zu einem gewissen Grad unzugänglich bleiben müssen und es wird ausgeblendet, wie spezifisch anders Handlungen und (Um)Welterzeugungen nicht-menschlicher Lebewesen sind.[26] 6) Heißt das, ins Auge des Sturms, der die Unzulänglichkeit der menschlichen Imagination ist, zu steuern. Schwer vor- und darstellbar sind beispielsweise die Ausmaße sehr langfristiger Folgen der Klimakrise oder die Wahrscheinlichkeiten naturwissenschaftlicher Prognosen und weiteres mehr. 7) Das beinhaltet, von Verschleierungs- und Übersetzungsmechanismen zu erzählen und sie nach Möglichkeit offenzulegen, ohne dabei Transparenz zu behaupten oder zu beanspruchen. Tsings und Glissants Texte können hierfür als Inspiration dienen.

Das alles scheint ziemlich schwierig.

Sich auf das Erzählen polyphoner Gefüge einzulassen, verlangt außerdem den Rezipierenden eine besondere Art der Aufmerksamkeit ab. Für viele[27] dürfte dies von den bestehenden Hör- und Sehgewohnheiten abweichen und das wirft wiederum weitere Schwierigkeiten auf, bzw. es hängt mit den benannten zusammen.

 

Wenn es so schwierig ist, warum braucht es andere Geschichten? Was steht eigentlich auf dem Spiel?

Nicht nur bei Tsing, die von „prekärem Überleben“[28] schreibt, sondern auch bei Donna Haraway liest es sich: Es geht um das Überleben, das Wiederbeleben, um teilweise Erholung und bescheidene Rehabilitation und das gemeinsame Weitermachen.[29] Die umrissene Problematik hat also außerordentlich viel Gewicht. Für ihre Lösung oder zumindest das Weitermachen auf diesem beschädigten Planeten werden andere Geschichten gebraucht. So formuliert es Tsing zusammenfassend: „Wir vergessen, dass ein gemeinschaftliches Überleben artenübergreifende Abstimmungen erfordert. Um das Feld der Möglichkeiten nun zu erweitern, bedürfen wir anderer Geschichten, dazu gehören auch Abenteuer von Landschaften.“[30] 

Auf diesem kurzen Streifzug durch verschiedene Landschaften habe ich überlegt, was sie für das Denken bedeuten (können), wie sich von ihnen erzählen lässt und lassen wird. Ich möchte mit einem Zitat von Donna Haraway schließen, welches die Relevanz und Dringlichkeit der skizzierten Argumentation unterstreichen soll: „It matters what matters we use to think other matters with; it matters what stories we tell to tell other stories with; it matters what knots knot knots, what thoughts think thoughts, what descriptions describe descriptions, what ties tie ties.”[31]

Redaktion: Hakyung Kang / Nele Liekenbrock

______________________________________

[1] Epigenetik erforscht Veränderungen in Organismen, die mehr durch Modifikation der Genexpression als durch Veränderung des genetischen Codes selbst verursacht werden. Sie stellt sich der Frage der Morphogenese, d.h. wie sich die Entwicklung vom Genotyp zum Phönotyp, also vom Erbgut zu einer bestimmten Morphologie vollzieht. Waddington beschäftigte sich mit Prozessen, die die embryologische Differenzierung steuern und mit der Rolle von Genen bei der Steuerung der Entwicklung. Vgl. Waddington, Conrad Hal: Organisers and Genes. Cambridge 1940.

[2] „Der Blick geht das Tal hinunter in Richtung Meer. Wenn der Fluss in die Berge fließt, passiert er ein abfallendes Tal und dann zwei Seitentäler an seinem linken Ufer. In der Ferne werden die Hänge der Täler steiler und mehr wie eine Schlucht.“ Original Zitat aus: Squier, Susan Merrill: Epigenetic landscapes: drawings as metaphor, Durham & London 2017, S. 11.

[3] Siehe: https://www.researchgate.net/profile/Jonathan-Bard-3/publication/247712652/figure/fig5/AS:432625119698965@1480157274581/John-Pipers-painting-of-the-epigenetic-landscape-the-frontispiece-to-Organisers-and.png.

[4] Siehe: https://www.researchgate.net/profile/Sa-Chen/publication/268376268/figure/fig1/AS:643199584456705@1530362139785/A-Waddingtons-epigenetic-landscape-B-The-interactions-underlying-the-epigenetic.png.

[5] Als pluripotent wird eine noch nicht spezialisierte Zelle bezeichnet, die das Potential hat, verschiedene differenzierte Zellen zu bilden. Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/pluripotente-stammzellen/52555.

[6] Vgl. Squier, Epigenetic landscapes, S. 2ff.

[7] Vgl. Glissant, Édouard: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Heidelberg 2015, S. 7.

[8] Ebd.

[9] Ebd., S. 13.

[10] Vgl. ebd.

[11] Vgl. ebd., S. 14. Interessanterweise schreibt auch Anna Lowenhaupt Tsing von „unvorhersehbare[n] Begegnungen“ (Der Pilz am Ende der Welt, S. 36) und „emergente[n] Effekte[n] von Begegnungen“ (Ebd., S. 40).

[12] Vgl. Glissant, Kultur und Identität, S. 54.

[13] Vgl. Tsing, Anna Lowenhaupt: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin 2020.

[14] Ebd., S. 86.

[15] Übersetzungen versteht Tsing in Anlehnung an Shiho Satsuka als Überführungen einer welterzeugenden Bestrebung in eine andere. Vgl. Tsing, Der Pilz am Ende der Welt, S. 84.

[16] Ebd., S. 205.

[17] Ebd., S. 204f.

[18] Dieses „wir“ wäre auf seine Ein- und Ausschlüsse hin zu untersuchen und bezieht sich in erste Linie auf eine Position, die im sogenannten Globalen Norden verortet wird.

[19] Vgl. Tsing,  Der Pilz am Ende der Welt, S. 207.

[20] Ebd., S. 211.

[21] Vgl. ebd.

[22] Nematoden oder Fadenwürmer sind wenige Zentimeter große parasitische Lebewesen. Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/fadenwuermer/23532.

[23] Tsing bezieht sich in dieser These auf den Biologen und Philosophen Jakob von Uexküll und konkretisiert bzw. erweitert seine Ausführungen (aus dem Jahr 1934), in denen er feststellt, dass jedes Subjekt jeder Spezies seine spezifische Umwelt hervorbringt. Diese Umwelten werden bei Uexküll im Gegensatz zu Tsing jedoch noch weitestgehend unverbunden gedacht, er verwendet das Bild einer „Seifenblase“. Vgl. von Uexküll, Jakob: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Frankfurt am Main 1970.

[24] Vgl. Tsing, Der Pilz am Ende der Welt, S. 41.

[25] Wie bereits zitiert: “Landschaften sind keine Kulissen für historisches Handeln: Sie selbst handeln.“ Ebd., S. 205. Vgl. außerdem: Tobias Rausch: „Das Wort für Welt ist Wald“, https://youtu.be/DiB41K84DIc.

[26] Vgl. Tobias Rausch: „Das Wort für Welt ist Wald“, https://youtu.be/DiB41K84DIc. Außerdem sei erneut auf Uexküll verwiesen, sowie auf Tsing: „Fortschrittserwartungen blockieren allerdings dieses Verständnis: Sprechende Tiere sind etwas für Kinder und Primitive.“, Der Pilz am Ende der Welt, S. 207.

[27] Siehe Endnote 17.

[28] Tsing, Der Pilz am Ende der Welt, S. 47. Dabei beschreibt sie Prekarität als die „Grundbedingung unserer Zeit“, ebd., S. 35.

[29] Vgl. Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham & London 2016, S. 101.

[30] Tsing, Der Pilz am Ende der Welt, S. 207f.

[31] Haraway, Staying with the Trouble, S. 12.

Veröffentlicht unter Relationalität

Ähnliche Beiträge